75 Jahre Eichenschule: Geschichte einer Elterninitiative 6
Teil 6
Zum Jubiläum unserer Eichenschule hat sich unser stellvertretende Schulleiter Karsten Frick die Mühe gemacht, viele Informationen und Geschichten zur historischen Entwicklung der Eichenschule in Scheeßel zusammen zu tragen. Wir veröffentlichen in den kommenden Wochen die 20 Teile dieser interessanten Recherche hier in unserem Blog.
Der Mauerbau 1961 verursacht massiven Lehrermangel an der Eichenschule (1961 – 1974)
Für die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs war die Sicherung der Altersversorgung der Mitarbeiter überlebensnotwendig geworden. Schon in den fünfziger Jahren hatte sich im gymnasialen Schulwesen deutschlandweit ein starker Lehrermangel abgezeichnet, der an der Eichenschule durch ihr stetiges Wachstum in dieser Aufbauphase noch stärker zutage trat. Jährlich waren ein bis zwei neue Lehrkräfte einzustellen, die auf dem heimischen Arbeitsmarkt nicht zu finden waren. Zudem verstärkte die Unsicherheit in Bezug auf die Altersversorgung die Abwanderungstendenzen im Kollegium. Die Personallücke konnte nur durch Flüchtlinge aus der DDR geschlossen werden, die bis 1961 in großer Zahl in die Bundesrepublik übersiedelten. Quasi durch Mundpropaganda holten neu eingestellte Lehrkräfte befreundete Berufskollegen mit dem Versprechen einer gesicherten Anstellung in einem Kreis Gleichgesinnter nach Scheeßel. Dieses Verfahren hatte sich schon der zweite Lehrer nach Strunck, Heinz Mell aus Schleiz, zu eigen gemacht, als er seinen Freund Robert Schmeller aus Ruhla 1950 überredete, als dritte Eichenschullehrkraft nach Scheeßel zu kommen, und es erwies sich bis 1961 als tragfähiges Konzept zur Lehrergewinnung. Beide hatten als Assessoren an der Internatsschule Bad Liebenstein in Thüringen zusammengearbeitet. Über diesen Thüringer Kanal wurden zahlreiche prägende Lehrkräfte der Frühzeit für die Eichenschule gewonnen: Dr. Günter Dietel, Dr. Hermann Seitz, Wolfgang Treblin, Kurt Schwerdfeger, Edgar Vöckler, Kurt Pinkwart und Walther Heyer. Mit dem Mauerbau am 13. August 1961 brach der Strom der nach Scheeßel geflüchteten Lehrkräfte abrupt ab. Junge Lehrkräfte, die der Eichenschule treu blieben, konnten in den nächsten zehn Jahren kaum eingestellt werden. Eberhard Scholz, Dr. Karsten Müller-Scheeßel, Meinolf Hillebrand, Gert Flöge und Anke Strähuber bildeten die Ausnahme in einem Kollegium, das immer mehr aus pensionierten Lehrern staatlicher Gymnasien bestand. Die Schulleitung war daher dankbar für jede Lehrkraft, die sich nach ihrer Pensionierung im Staatsdienst oder ihrer Verrentung an der Eichenschule mit einigen Stunden in Scheeßel weiter beschäftigen ließ. So gab beispielsweise der 1975 in den Ruhestand verabschiedete Franz Dubau 1983 im Alter von 74 Jahren seine letzte Unterrichtsstunde. Der ehemalige Schulleiter des Verdener Domgymnasiums, Dr. Heinrich Oldecop, der seit seiner Pensionierung 1953 an der Eichenschule Latein unterrichtete, schied sogar erst im Alter von 81 Jahren 1968 aus dem Eichenschuldienst aus. Seinen Unterricht erteilte er zuweilen auch in seinem nicht weit von der Eichenschule entfernten Privathaus. Die beiden genannten Lehrkräfte stehen mit ihrer beruflichen Vita stellvertretend für rund ein Viertel des Kollegiums in den 60er und 70er Jahren. Auf diese Weise gelang es der Eichenschule im Unterschied zu vielen anderen Gymnasien, die Stundentafel ohne Ausfall voll zu unterrichten.
Die Pensionäre sollten es bequem an der Eichenschule haben, damit sie möglichst lange ihre Lehrtätigkeiten fortsetzten, um die Unterrichtsversorgung sicherzustellen. Deshalb verzichtete die Schulleitung auch weitgehend auf pädagogische und didaktische Innovationen, an denen das zunehmend älter werdende Kollegium auch immer weniger interessiert war. Die Entwicklung der Schule stagnierte. Dennoch hatte die Schule auch in dieser Zeit ein unterrichtlich hohes Niveau. Als Privatschule musste die Eichenschule jährlich alle korrigierten Abiturklausuren dem Oberschulrat in Hannover zur Prüfung vorgelegen. Diese permanente staatliche Aufsicht war Ansporn für alle Lehrkräfte und gewährleistete die Unterrichtsqualität.
Überdeckt wurde der Stillstand bei der Schulentwicklung durch die stetig wachsende Schülerzahl. Während 1960 rund 300 Schüler die Eichenschule besuchten, verdoppelte sich bis 1970 diese Zahl durch die geburtenstarken Jahrgänge in den 60er Jahren. Die damit einhergehende Bautätigkeit täuschte einen Aufwärtstrend vor, den es so inhaltlich nicht gab. Zudem verschärfte der Anstieg der Schülerzahlen die ohnehin schwierige Personalsituation.
Der Schulleiter Dr. Ernst Leewe erklärte 1970, dass er im Sommer 1971 in den Ruhestand treten werde. Möglicherweise hätte in dieser Situation durch die Neubesetzung des Schulleiterpostens neuer Schwung entfaltet werden können, aber der Mangel an ausgebildetem Lehrpersonal auf dem Arbeitsmarkt, verstärkt noch durch die schlechtere Bezahlung an der Privatschule, stellten vermutlich auch für einen agilen führungsstarken Chef zu große Probleme dar.
Mit dem hauseigenen Kandidaten und langjährigen stellvertretenden Schulleiter Dr. Günter Dietel und Humbert Settler aus Osterholz-Scharmbeck gab es ohnehin nur zwei ernsthafte Bewerber um die Nachfolge Leewes. Nachdem sich Vorstand und Aufsichtsrat in drei Abstimmungen gegenseitig neutralisiert hatten – Dietel war Favorit des Vorstands, Settler wurde vom Aufsichtsrat begünstigt – zog Dietel entnervt seine Bewerbung zurück und Settler trat zum 01.08.1971 seinen Dienst als Direktor der Eichenschule an. Er stand einer Schule vor, die im Jubiläumsjahr 1972 von 485 Schülern, darunter 210 Internatsschülern, besucht wurde. Der hohe Anteil der Wohnheim-Schüler von nahezu 45 % beweist, welch enorme Bedeutung dem Internat für den Bestand der Schule in den 70er Jahren zukam. Der Unterricht wurde von 32 Lehrkräften bewältigt; unter ihnen sieben Pensionäre und neun Quereinsteiger. Der Gestaltungsraum des Schulleiters war begrenzt.
Während in den 60er Jahren die beschriebene Stagnation in der Schulentwicklung noch durch die hohen Belegzahlen im Internat überdeckt werden konnte, war die Belegung in den 70er Jahren trotz intensiver Bemühungen um neue Internatsschüler insgesamt rückläufig. Auch der junge Kollege Karsten Müller-Scheeßel, der als Internatsleiter eingesetzt wurde, konnte letztendlich den Trend sinkender Belegungszahlen nicht brechen, sondern nur aufhalten. Es war in einer seiner letzten Vorstandsentscheidungen wiederum Paul Karl Schmidt, der den 34jährigen Müller-Scheeßel 1973 mit der Leitung des Internats betraute. 1974 trat Schmidt nicht wieder für eine Vorstandstätigkeit an. Im gleichen Jahr verließ Dr. Günter Dietel, der 1971 bei der Auswahl des Schulleiters unterlegen war, die Eichenschule, um in Rotenburg als Leitender Pädagoge die Evangelische Fachschule für Sozialpädagogik im Diakonissen-Mutterhaus neu aufzubauen. Dietel blieb seiner Eichenschule allerdings in neuer Funktion treu: Von 1974 bis 2001 war er eines der sechs Vorstandsmitglieder der Schulgenossenschaft und bis zu seinem Tod 2020 der wohl wichtigste Chronist der Eichenschule. Müller-Scheeßel folgte ihm als stellvertretender Schulleiter nach.